von Helmholtz, H. (1863). Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Vieweg, Braunschweig
Aus dem Vorwort zur 3. Aufl.:
... Für meine Theorie der Konsonanz muß ich in Anspruch nehmen, daß sie ... bloß eine Zusammenfassung beobachtbarer Tatsachen ist. Aber ich halte es für einen Fehler, wenn man die Theorie der Konsonanz zur wesentlichen Grundlage der Theorie der Musik macht, und ich war der Meinung, dies deutlich genug in diesem Buche ausgesprochen zu haben. Die wesentliche Basis der Musik ist die Melodie ...
Einige Zitate aus der 6. Aufl. (1913):
p. 371 - Somit stehe ich nicht an zu behaupten, daß in den vorliegenden Untersuchungen die wahre und ausreichende Ursache des konsonanten und dissonanten Verhaltens der musikalischen Klänge dargelegt worden sei, gegründet auf eine genauere Analyse der Tonempfindungen und auf rein naturwissenschaftliche, nicht auf ästhetische Prinzipien ...
p. 370 - Namentlich bitte ich den Leser auch zu bemerken, daß die Hypothese über das Mitschwingen der Cortischen Organe des Ohres mit der Erklärung der Konsonanz und Dissonanz gar nichts unmittelbar zu tun hat. Letztere gründet sich allein auf Tatsachen der Beobachtung, auf die Schwebungen der Partialtöne und die Schwebungen der Kombinationstöne ...
p. 418-419 - Fragen wir also, welcher Grund kann da sein, wenn wir von einem gewissen Anfangston ausgehen, den Schritt nach irgend einem bestimmten anderen Ton zu bevorzugen vor den Schritten nach seinen Nachbartönen? ... Die neueren Theoretiker, welche im System der harmonischen Musik aufgewachsen waren, haben deshalb geglaubt, den Ursprung der Tonleiter durch die Annahme erklären zu können, daß alle Melodie entstehe, indem man sich eine Harmonie dabei denke ... Aber Tonleitern sind historisch längst vorhanden gewesen, noch ehe irgend welche Erfahrungen über Harmonie vorlagen ... Ebenso ist es mit Rameaus Annahme eines subintendierten Fundamentalbasses bei der Konstruktion einer einstimmigen Melodie oder einer Tonleiter. Ein neuerer Komponist wird sich allerdings meist sogleich den Fundamentalbaß zu einer Melodie denken, die er erfindet. Aber Musiker, welche noch nie harmonische Musik gehört haben, und keine solche zu setzen verstehen, wie sollen die es können? Es ist hier offenbar dem allerdings unbewußt viele Beziehungen herausfühlenden Künstlergeist zuviel zugemutet, wenn man behauptet, er solle Beziehungen der Töne beachten, die er nie oder wenigstens nur selten mit leiblichem Ohr vernommen hat, und die erst eine ferne Nachwelt herauszufinden und zu benutzen bestimmt war.
p. 420 ff - Es sei irgend eine Melodie von irgend einem Instrument, welches eine gute musikalische Klangfarbe hat, etwa einer menschlichen Stimme, ausgeführt worden, so hat der Hörer außer den Grundtönen der Klänge auch deren höhere Oktaven und schwächer die übrigen Obertöne gehört. Wenn nun eine höhere Stimme dieselbe Melodie nachher in der höheren Oktave ausführt, so hören wir einen Teil dessen wieder, was wir eben gehört haben, nämlich die geraden Teiltöne der früheren Klänge, und wir hören dabe nicht Neues, was wir nicht schon gehört hätten ... Was von der Oktave gilt, gilt in geringerem Grade auch von der Duodezime ... Statt ihrer kann nun auch die Wiederholung eine Oktave tiefer in der Quinte eintreten ... aber dies ist die am meisten vollkommene Wiederholung, die wir in einem kleineren Abstand als einer Oktave machen können. Hiervon rührt es offenbar her, daß man noch jetzt ungeübte Sänger, wenn sie mit anderen im Chor ein Lied singen wollen, welches ihrer Stimmlage nicht paßt, oft in der Quinte mitsingen hört, worin sich recht deutlich ausspricht, daß auch dem ungebildeten Ohr die Wiederholung in der Quinte als eine natürliche Wiederholung erscheint ... In den normalen Fugen wird bekanntlich das Thema zunächst in der Quinte wiederholt; in der Normalform der Instrumentalstücke, der der Sonate, wird das Thema im ersten Satz in die Quinte hinübergeführt, um im zweiten Teil im Grundton wiederzukehren ... die Verwandtschaft der Quinte und der durch ihre Umkehrung gegebenen Quarte mit dem Grundton ist so groß, daß sie sich in allen bekannten Musiksystemen aller Völker geltend macht ... Das Intervall der Terz ist schon nicht mehr so deutlich durch leicht wahrnehmbare Obertöne begrenzt, daß es sich von vornherein dem Ohr ungeübter Musizierender bestimmt aufgedrängt hätte ... In der Tat zeigt sich in der Geschichte der musikalischen Systeme ein langes Schwanken in bezug auf die Stimmung der Terzen ...
p. 467 - Ich habe in dem vorliegenden Abschnitt die melodische Verwandtschaft der Töne ebenso von ihren Obertönen abhängig gemacht, wie es sich für die Verhältnisse der Konsonanz ... ergeben hatte ... Unserer Darstellung gemäß würden wenigstens dieselben Eigentümlichkeiten in der Zusammensetzung der Klänge, welche für die Konsonanz im Zusammenklang den Ausschlag geben, auch die melodische Verwandtschaft in der Aufeinanderfolge bestimmen. Die erstere wäre demnach zwar nicht der Grund der letzteren ... aber beide hätten einen gemeinsammen Grund in der Zusammensetzung der Klänge.
p. 587 - Zuerst entwickelte sich das Gefühl für die melodische Verwandtschaft aufeinanderfolgender Töne, und zwar anfangs für die Oktave und Quinte, später für die Terz. Wir haben uns bemüht, nachzuweisen, daß dieses Gefühl der Verwandtschaft begründet war in der Empfindung gleicher Partialtöne der betreffenden Klänge. Nun sind diese Partialtöne allerdings vorhanden in der sinnlichen Empfindung des Gehörnervenapparats, und doch werden sie als für sich bestehende Empfindungen für gewöhnlich nicht Gegenstand der bewußten Wahrnehmung. Die bewußte Wahrnehmung des gewöhnlichen Lebens beschränkt sich darauf, den Klang, dem sie angehören, als Ganzes aufzufassen, etwa wie wir den Geschmack einer zusammengesetzten Speise als Ganzes auffassen, ohne uns klar zu machen, wieviel davon dem Salz, dem Pfeffer oder anderen Gewürzen und Zutaten angehört. Es gehört erst eine kritische Untersuchung unserer Gehörempfindungen als solcher dazu, damit wir die Existenz der Obertöne herausfinden. Daher ist denn auch der eigentliche Grund der melodischen Verwandtschaft zweier Klänge bis auf mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Vermutungen, wie wir sie z.B. bei Rameau und d'Alembert finden, so lange Zeit nicht entdeckt worden, oder wenigstens nicht bis zu einer ganz klaren und bestimmten Darstellung gekommen. Ich glaube nun imstande gewesen zu sein, eine solche zu geben und den ganzen Zusammenhang deutlich dargelegt zu haben. Das ästhetische Problem ist damit zurückgeführt worden auf die gemeinsame Eigentümlichkeit aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen, vermöge der wir zusammengesetzte Aggregate von Empfindungen als die sinnlichen Symbole einfacher äußerer Objekte auffassen, ohne sie zu analysieren. Unsere Aufmerksamkeit ist bei der alltäglichen Beobachtung der Außenwelt so ausschließlich an die äußeren Objekte gefesselt, daß wir durchaus ungeübt bleiben, diejenigen Eigentümlichkeiten unserer Sinnesempfindungen als solche zur bewußten Beobachtung zu bringen, welche wir nicht als sinnlichen Ausdruck eines gesonderten äußeren Gegenstandes oder Vorganges kennen gelernt haben.
Nachdem die Musiker sich lange Zeit mit den melodischen Verwandtschaften der Töne begnügt hatten, fingen sie im Mittelalter an, ihre harmonische Verwandtschaft, die sich in der Konsonanz zeigt, zu benutzen ... Während aber in der melodischen Verwandtschaft die Gleichheit der Obertöne nur mittels der Erinnerung an den vorausgegangenen Klang empfunden werden kann, wird sie in der Konsonanz durch eine Erscheinung der gegenwärtigen sinnlichen Empfindung festgestellt, nämlich durch die Schwebungen ...
Die Anerkennung dieser Ähnlichkeiten zwischen den Klängen und Akkorden erinnert an andere ganz entsprechende Erfahrungen. Wir müssen oft die Ähnlichkeit der Gesichter zweier naher Verwandten anerkennen, während wir selten genug imstande sind, anzugeben, worauf diese Ähnlichkeit beruht, namentlich wenn Alter und Geschlecht verschieden sind und die gröberen Umrisse der Gesichtszüge deshalb die auffallendsten Verschiedenheiten darbieten. Und doch kann trotz dieser Unterschiede und trotzdem wir keinen einzigen Teil des Gesichts zu bezeichnen wissen, der in beiden gleich sei, die Ähnlichkeit so außerordentlich auffallend und überzeugend sein, daß wir keinen Augenblick darüber im Zweifel sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Anerkennung der Verwandtschaft zweier Klänge.